Wolfsstunde

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Er ist ganz nah. Ich kann ihn spüren. Vielleicht wartet er schon auf mich. Hinter einem der vielen Bäume, die mir trügerischen Schutz versprochen haben, bevor ich durch den Schlamm in ihren Schatten gekrochen bin.

Jetzt wirken sie bedrohlich. Jeder von ihnen könnte das Versteck sein, hinter dem er auf mich lauert. Den Moment meiner Ahnungslosigkeit genießend. Den Geruch meiner Angst atmend. Bereit, sich aus dem Dunkel zu lösen und mich zu packen. Elegant und mühelos in seinen Bewegungen. Wenn er nah genug ist, habe ich keine Chance. Deswegen habe ich es mir die ganze Zeit nicht erlaubt zu ruhen. Immer tiefer habe ich mich von ihm in den Wald treiben lassen. Keinen Moment gezögert, eine neue Richtung einzuschlagen. Fort von ihm. Ich bin so erschöpft. Fast schon sehne ich ihn herbei. Aber noch habe ich Kraft. Ein bisschen halte ich noch durch. So leicht werde ich es ihm nicht machen.

Mein Fehler ärgert mich. Ich hätte nicht in den Wald laufen dürfen. Das hatte er gewollt. Deswegen hat er mich hergebracht. Und vielleicht bin ich auch jetzt genau an dem Ort, an den er mich ganz bewusst getrieben hat. Die Vorstellung beunruhigt mich. Ich bin müde vom vielen Laufen, kann nicht mehr klar denken. Und es ist kalt. Nur kurz ausruhen. Nur kurz Schutz suchen vor dieser kriechenden Kälte, die sich allmählich in mir ausbreitet. Der Schlamm an meinem Körper ist getrocknet. Die Haut darunter spannt. Doch die langen Stiefel haben sich mit der Feuchtigkeit des Waldbodens vollgesogen und halten sie erbarmungslos an meinen klammen Füßen. Bis auf den Schmerz ist kaum noch Gefühl in ihnen. Trotzdem tragen sie mich weiter durch das Laub, zwischen den Bäumen hindurch, der zwielichtigen Dämmerung eines sterbenden Tages entgegen.

Bald wird es noch kälter sein. Ich muss mich etwas ausruhen und auf die Nacht vorbereiten. Jetzt. Hier zwischen den Zweigen des gefallenen Baumes sieht er mich bestimmt nicht sofort. Ich kann mich anlehnen, den Beinen Erleichterung verschaffen. Wenn ich nur nicht so müde wäre. Mir ist klar, dass ich nicht einschlafen darf. Ich muss die Augen offen halten, bereit zur Flucht bleiben. Einen Ausweg suchen. Doch in der sich ausbreitenden Dunkelheit verschwimmt die Welt hinter den Bäumen. Schatten gehen in Schatten über. Selbst wenn es ein Ende dieses Waldes gäbe – ich würde es nicht sehen können. Deswegen ist es umso wichtiger, dass meine Schritte nicht berechenbar sind. Ich muss weiterlaufen. Immer weiter. Sonst bin ich verloren.

Aber erst muss ich wieder zu Kräften kommen. Das Adrenalin hat mich schon viel zu lang in Bewegung gehalten. Der Rausch lässt nach. Mein Körper ist zu erschöpft. Die Anstrengung fordert ihren Preis. Ich kämpfe gegen die Müdigkeit an, die mich von der Welt entrückt. Wie in einem Sumpf versinke ich in ihr. Immer weiter gleite ich fort. Immer zäher werden meine Gedanken. Immer träger wird mein Geist. Der Schlaf lockt mit dem Versprechen süßen Vergessens. Bestimmt stehe ich gleich auf. Nur einen Moment noch…

Dunkelheit.

Dann höre ich es. Ein Klacken. Irgendwie gedämpft. Ich verstehe nicht sofort, was es bedeutet. Kann mich nicht richtig bewegen. Etwas ist an meinen Handgelenken, hält sie zusammen. Es ist dunkel. So dunkel. Schemenhaft erkenne ich Wände, die den engen Raum um mich herum begrenzen. Sie sind seltsam nah. Mein Mund ist trocken und ein chemischer Geruch klebt in meiner Nase. Er haftet an mir und zieht mich zurück in die Gedankenlosigkeit. Ich möchte ihm nachgeben. Seiner Schwere folgend weiter sinken. Stattdessen stemme ich mich mit aller Kraft dagegen an. Ich erinnere mich nicht. Nicht, wie ich an diesen Ort kam. Nicht, wer ich bis zu diesem Augenblick gewesen bin. Es fühlt sich ein bisschen so an, als sei mein Bewusstsein gerade eben erst erwacht. Als hätte es gar kein Davor gegeben. Als wäre ich so, wie ich jetzt bin, in die Welt geworfen worden. Die Ahnung eines Traumes klingt in mir nach, doch ich kann keine Bilder daraus greifen. Sie verschwimmen im Nebel meiner getrübten Wahrnehmung. Von Außen, der Welt hinter der Dunkelheit, hinter diesen seltsam nahen Wänden, dringen Geräusche zu mir herüber. Ich kann sie nicht zuordnen. Lausche ihnen nur. Halte mich an ihnen fest, um meiner Isolation zu entfliehen. Sie sind mein Anker, der mir zeigt, dass ich nicht ganz allein bin und eingeschlossen in mich selbst. Der Schleier, der mich in diesem Augenblick gefangen hält, beginnt sich zu lichten. Erinnerungen mischen sich mit den Bildern meines Traumes. Noch kann ich nicht unterscheiden, was davon real ist. Doch wie in einem Puzzle, das sich selbst vollendet, fügt sich nach und nach alles zusammen. Ergibt ein stimmiges Ganzes. Ein fremder Mann, der mich gepackt hat. Gegen den ich mich nicht wehren konnte. Egal, wie ich mich gewunden habe. Sein Flüstern. Die Worte habe ich nicht verstanden. Nur die Drohung in seiner Stimme. Das Tuch in meinem Gesicht. Der chemische Geruch. Dunkelheit. Die Geräusche von Draußen werden lauter. Dann öffnet sich ein Spalt vor mir. Das Licht, das durch ihn dringt, blendet mich, brennt in meinen Augen. Ich liege in einem Kofferraum. Gefesselt. Die Sonne steht hoch am Himmel. Hinter den Wolken kann man sie erahnen. Die Luft ist feucht und schwer. Es muss geregnet haben. Die Gestalt des Mannes ist nur ein dunkler, bedrohlicher Schatten, der sich zu mir beugt. Ich sehe ihm dabei zu, wie er meine Fesseln löst. Knoten für Knoten. Spüre die Wärme zurückkehren in meine halbbetäubten, steifen Glieder. Er sagt etwas von einer Chance, die er mir lässt. Dass ich sie nutzen soll. Er lässt mich frei, wenn ich ihm entkommen kann. Plötzlich stehe ich. Wir sind auf einem Parkplatz. Rechts ist eine lange Straße, die sich durch eine menschenleere Gegend windet. Links von uns ein Wald. Er gibt mir zehn Minuten Vorsprung. Ohne nachzudenken renne ich auf den Waldrand zu. Werfe mich zwischen die Bäume auf den Boden und krieche durch den Schlamm hinein in mein Versteck, richte mich wieder auf und renne. Renne als gäbe es kein Morgen. Und vielleicht gibt es das auch nicht. Folgt er mir schon? Sind die zehn Minuten schon um? Ich höre ein Rascheln hinter mir und Stürze in eine neue Dunkelheit. Der Boden ist durchweicht. Er klebt an mir. Wie Treibsand. Ich kann mich nicht von ihm lösen. Bald schon schließt er mich ganz in sich ein. Trennt mich von dem Licht und von der Luft. Das Geräusch, das mich so erschrocken hat, wird lauter.

Es dauert etwas, bis es in mein Bewusstsein vordringt. War alles nur ein Traum? Ich muss geschlafen haben. Ja, das habe ich wirklich. Verflucht. Wie lange war ich weg? Und der Schlaf hat mir auch kein Vergessen gebracht. Selbst darin verfolgt er mich noch. Mein Körper fühlt sich schwer an. Mein Geist benommen. Doch etwas weiß ich mit erschreckender Klarheit: Er ist da. Endlich. Plötzlich bin ich wieder hellwach. Reiße meine Augen auf und sehe ihn. Er steht einfach da und betrachtet mich. Lächelnd. Sein Blick ist hungrig und wild. Gierig auf mein Fleisch und meinen Schmerz. Auf meine Schreie und meine Tränen.

Gebannt von der Anmut seiner Stärke verharre ich regungslos vor ihm. Ein paar Meter trennen uns noch. Genug, um fortzukommen. Ich weiß, ich sollte kämpfen und fliehen. Doch ich kann nicht. Ich kann nur zusehen. Zusehen, wie er immer näher kommt. Ganz langsam. Seinen Sieg über mich mit jedem Schritt auskostend. Wie gelähmt warte ich, um ihn zu empfangen.

Fast ist er bei mir. Ich halte den Atem an. Konzentriere mich auf seine Bewegungen. Dann löst sich meine Anspannung und vertreibt die Lähmung. Ein letzter Akt. Der verzweifelte Sprung. Nicht fort von ihm, sondern auf ihn zu. Meine Nägel durchbohren seine Haut. Meine Zähne dringen in sein Fleisch. Sein Blut ist warm. Es klebt an meinen Lippen. Doch ihn scheint es nicht zu stören. Er hält mich nur mit einem Arm. Mehr braucht er nicht für mich. Meine eigene Schwäche erkennend kapituliere ich. Gestehe mir ein, dass er überlegen ist. Winde mich weiter. Mehr willkürliche Reaktionen meines Körpers, der das Unvermeidliche nicht einsehen will. In seinem Griff drückt er ganz fest zu. Der Schmerz ist so heftig, dass ich mich nicht dagegen wehren kann. Folge ihm hinunter auf den Boden. Ich würde alles tun, nur damit dieser Schmerz nachlässt. Alles. Seine Berührung lockert sich. Ich knie vor ihm und blicke zu ihm auf. Er hat mich.

Januar 2018

Foto: Msunderstood

Eine tolle Künstlerin, die es immer schafft, mit ihren Bildern eine Geschichte zu erzählen.

Ein Gedanke zu “Wolfsstunde

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